GHS
Online-Ringvorlesung 2023

Online-Ringvorlesung 2023

Foto: Gerd Altmann (pixabay)

Menschenbilder - Sichtweisen und Perspektiven

Im Sommersemester 2023 bieten neun Universitäten – allesamt Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftliche Weiterbildung für Ältere der DGWF – wieder eine bundesweite Online-Ringvorlesung an.

In zehn Sitzungen wird das Thema Menschenbilder aus diversen wissenschaftlichen Perspektiven beleuchtet. Das Besondere: Die Vorträge werden per Live-Videokonferenz reihum vom Veranstaltungsort in die Hörsäle aller anderen beteiligten Einrichtungen übertragen.

Wann? ab Mi 19.04.2023, 16 Uhr
Wo? Online und Vor-Ort im LUIS Hannover

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Um dabeizusein, müssen Sie eingeschrieben sein.
Anmeldung unter: info@ghs.uni-hannover.de

Folgende Beiträge erwarten Sie:

Verwandtsein. Ethnologische Perspektiven auf soziale Nähe und verwandtschaftliche Vielfalt
Prof. Dr. Julia Pauli, Uni Hamburg

Soziale Beziehungen beeinflussen wesentlich, wie zufrieden Menschen mit ihrem Leben sind. Verwandtschaftliche Bindungen sind dabei von herausragender Bedeutung. Allerdings variiert die Relevanz bestimmter Verwandter kulturell sehr stark. Jenseits problematischer Biologismen von Verwandtschaft zeigt die kulturvergleichende ethnologische Forschung eine große Vielfalt an möglichen verwandtschaftlichen Beziehungen. Verwandte können dabei Quelle großer Unterstützung und Zuneigung wie auch zermürbender Konflikte sein. Der Vortrag diskutiert anhand ethnographischer Beispiele vor allem aus Mexiko und Namibia, wie komplex, dynamisch und kreativ Verwandtsein gelebt werden kann. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Vereinsamung vieler Menschen in sogenannten westlichen Gesellschaften können ethnologische Forschungen dazu anregen, Verwandtschaft und Verwandtsein neu und anders zu denken.
 

Perspektiven für eine philosophische Anthropologie im Zeichen des Anthropozäns
Prof. Dr. Gerald Hartung, Uni Wuppertal

Aktuelle Überlegungen zum Klimawandel - Fortschrittsskepsis, Mißtrauen in Bezug auf technologische Entwicklungen und wirtschaftliches Handeln, Konflikte zwischen Expert*innenkulturen und der Öffentlichkeit - werfen die Frage nach einem Menschenbild für unsere Gegenwart und Zukunft auf. Von der jüngeren Generation wird ein Einspruch gegen ein tradiertes Selbstverständnis unserer menschlichen Lebensform und Mensch-Natur-Verhältnis erhoben. Die Paradoxie von radikalen Eingriffen des Menschen in die Natur und seiner prekären Abhängigkeit von dieser wird im Horizont der Bestimmung eines neuen Erdzeitalters verhandelt: ›Anthropozän‹. Ich möchte in meinem Vortrag der Frage nachgehen, wie ein angemessenes Menschenbild im Zeichen des Anthropozäns aussehen könnte.

Wird es einen "Kampf der Kulturen" geben?
Prof. Dr. Hans Friesen, TU Cottbus

Im Jahre 1996 überraschte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington in seinem Buch Kampf der Kulturen mit einer sehr einprägsamen aber gleichwohl grob vereinfachenden Weltformel. Diese besagt, dass nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr ‚politische Ideologien‘, sondern nunmehr „Kulturen“ die Ordnung der Welt bestimmen würden. Obwohl diese These von wissenschaftlicher Seite frühzeitig massiv kritisiert wurde, ist sie trotzdem zum festen Bestandteil der öffentlichen Diskussion weltweit geworden. Doch die gewissenhaftere Deutung der Geschichte zeigte, dass sich die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg mit ihrem bipolaren Aufbau zwar ab den 1980er Jahren in eine mit multipolarer bzw. multikultureller Struktur geändert hat, doch diese Struktur ist in Bewegung und ändert sich weiter. Sie verweist auf ‚kulturelle Muster‘, die mit unseren unterschiedlichen Menschenauffassungen in Verbindung stehen und jeweils auf ungelöste Gerechtigkeitsprobleme in den internationalen Beziehungen deuten. In dieser Perspektive bleiben die Nationen weiterhin, wenn auch durch die ökonomische und technologische Globalisierung geschwächte Hauptakteure im Weltgeschehen und werden in unterschiedlichen Koalitionen wirtschaftspolitisch wie militärisch agieren, um Macht und Einfluss zu behaupten oder zu vergrößern. Nun kann man aber aus dieser Auffassung nicht nur einseitig schlussfolgern, dass es vor allem an den zahlreichen „Frontlinien“ oder „Bruchlinien“ der Kulturkreise, wie Huntington meinte, zu den in Zukunft drohenden Konflikten kommen wird, denn einige Kritiker nehmen gleichzeitig an, dass man dem begegnen kann, wenn der Westen diesen gefährlichen Kampf frühzeitig mit einem gezielten bzw. klugen „Dialog der Kulturen“ zu verhindern versucht. Allerdings kann das nicht gelingen, wenn man sich diesen Dialog, wie einige politische Hardliner es heute verstehen, als strategische Verhandlungen zur Erlangung guter Beziehungen etwa mit Korea, Japan und Australien vorstellt, der beansprucht wird, um die „Interessen des Westens“ gezielt durchzusetzen sowohl im Nahen und Mittleren Osten als auch vor allem gegenüber jenem ökonomisch wie militärisch rasch aufsteigenden konfuzianisch-kommunistischen „Reich der Mitte“ im Fernen Osten.

Den Alltag unter die Lupe nehmen
Prof. Dr. Mirko Uhlig, Uni Mainz

Die Kulturanthropologie (in der Wissenschaftslandschaft auch als Empirische Kulturwissenschaft, Europäische Ethnologie, Populäre Kulturen, Vergleichende Kulturwissenschaft oder – wenn auch mittlerweile kaum noch – als Volkskunde bezeichnet) erforscht alltagskulturelle Phänomene in Vergangenheit und Gegenwart. Dazu nutzt das Fach einen weiten Kulturbegriff und stellt die handelnden Menschen sowie ihre jeweiligen Sinnentwürfe und Bedeutungszuschreibungen in den Mittelpunkt der Analyse.

Mensch und Tier – kulturwissenschaftliche Perspektiven auf ein ambivalentes Verhältnis
Prof. Dr. Barbara Krug-Richter, Uni Saarbrücken

Der Vortrag fragt in kulturwissenschaftlicher Perspektive nach dem sich wandelnden Verhältnis des Menschen zum Tier im westlich-europäischen Kulturkreis. Denn der Mensch definierte das genuin Menschliche lange in Abgrenzung zum Tierischen. Dabei ist vor allem für die Moderne ein ausgeprägt ambivalentes Verhältnis nachweisbar: Auf der einen Seite verdrängen wir die Nutztiere völlig aus unserer Wahrnehmung, andererseits verhätscheln wir unsere Haustiere.

Wie wir sie sehen. Koloniale und postkoloniale Menschenbilder vom fremden Anderen
Dr. Helga Rathjen, Uni Bremen

Die Verletzung von Menschenrechten in anderen Teilen der Welt ist eine anhaltende Sorge der „westlichen Wertegemeinschaft“. Dass sich die Aufmerksamkeit von Politik und Öffentlichkeit weitaus mehr auf (Meinungs-)Freiheit und Selbstbestimmungsrechte anderswo richtet, als auf die weltweite Verletzung jener Menschenrechte, die vulnerable Gruppen vor dem Teufelskreis der Armut und Abhängigkeit, Migration und Vertreibung schützen soll, ist dem Vorwurf doppelter Standards, eurozentrischer Doppelmoral im Globalen Norden ausgesetzt.

Diese Doppelmoral wurzelt in dem kolonialen Menschenbild Europas. Die koloniale Aufteilung der Menschheit in eine zivilisierte Welt der Weißen und den Rest der Welt mündete in eine rassistische Bewertungsskala von fremden Anderen, die ohne den kolonialen Prozess der Aneignung und Unterwerfung nicht zu denken ist. An den multimedialen stereotypen Bildern, die die Kolonisierten kenntlich machen sollten, haben viele Akteur:innen mitgewirkt und sie tief ins kollektiven Gedächtnis der kolonisierten Welt eingeschrieben. Sie sind unser immer noch virulentes, vielfach handlungsleitendes koloniales Erbe.

Der Streit - Konflikt und Gewalt aus kulturanthropologischer Perspektive
Prof. Dr. Wolfgang Gabbert, Uni Hannover

Konflikt und Gewalt sind Phänomene, welche die menschliche Gesellschaft von Anbeginn begleiten. Im heutigen Alltagsverständnis – und auch in manchen wissenschaftlichen Ansätzen – werden sie oft als Ausbruch atavistischer Impulse oder Triebe, als antisozial und abweichend betrachtet. Dagegen haben die Kulturanthropologie und Soziologie gezeigt, dass Konflikte nicht nur zerstörerisch, sondern auch integrierend wirken können. So folgt der Gebrauch von Gewalt bestimmten Regeln und ist kulturell geformt. Es kann hier nicht darum gehen, eine einheitliche Theorie sozialer Konflikte oder der Gewalt zu präsentieren – die gibt es nämlich bis heute nicht.

Die Ziele dieses Vortrags sind:

  1. die Entwicklung sozialwissenschaftlichen Denkens über Konflikt und Gewalt zu skizzieren;
  2. Dimensionen der Konzepte Konflikt und Gewalt aufzuzeigen und
  3. einige Erträge kulturanthropologischer Forschung zum Verständnis dieser Phänomenbereiche zu präsentieren.

Sprache – diskriminierungskritisch gedacht und formuliert
Prof. Dr. Heike Radvan, TU Cottbus

Sprache verändert sich. Aus historischer Perspektive handelt es sich hierbei um kein neues Phänomen. Aktuelle Ansätze wie zum Beispiel eine geschlechterreflektierende und diskriminierungskritische Sprachverwendung zielen darauf ab, unser Sprechen dahingehend zu reflektieren, welche Wirkung sie entfaltet: Wer wird angesprochen? Wer ist mitgemeint? Wie ist ein respektvolles Sprechen möglich, das Diskriminierungserfahrungen und mögliche Verletzungen ausschließt? Welche Ansätze eröffnen gemeinsame Lernprozesse und Wege hin zu einem möglichst inklusiven, solidarischen und am Dialog orientierten Miteinander? Im Vortrag wird Hintergrundwissen zu den relevanten Themenbereichen vermittelt als auch in Richtung Praxis gedacht.

Naturalismus und Ideologie – wie wir (nicht) über die Natur des Menschen nachdenken sollten
Prof. Dr. Rebekka Hufendiek, Uni Ulm

In den letzten Jahren haben eine Vielfalt an YouTube-Kanälen und etwas dunkleren Ecken des Internets Gedanken und Argumentationsmustern zu neuer Prominenz verholfen, die in akademischen Debatten allgemein als überholt gelten. Im Umfeld des so genannten Intellectual Dark Web florieren Behauptungen über biologisch bedingte Unterschiede zwischen Gruppen von Menschen (eingeteilt nach Geschlecht, Rasse oder Klasse). Der Verweis auf biologische Unterschiede, dient hier der Rechtfertigung gesellschaftlicher Ungleichheiten.Wie der Biologe Richard Lewontin schon vor Jahrzehnten kritisiert hat, wird der Bezug auf "Wissenschaft" oder "Biologie" oft missbraucht, um soziale Ungleichheiten zu legitimieren, indem sie als natürlich und damit unausweichlich dargestellt werden. In diesem Vortrag soll aus wissenschaftstheoretischer Perspektive nach Abgrenzungskriterien zwischen angemessenen wissenschaftlichen Erklärungen und ideologischen Behauptungen gefragt werden. Wie können wir das eine vom anderen unterscheiden, wenn sich hier wie dort auf Fakten und Empirie berufen wird?

Das Ende vom Ende. Apokalyptisches Denken im 20. und 21. Jahrhundert
Dr. Dr. Ulrich van Loyen, Uni Siegen

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Auseinandersetzung mit dem Weltenende zumindest in der westlichen Hemisphäre enorm zugenommen. Der Philosoph Günther Anders erklärte, mit dem hereinbrechenden Atomzeitalter sei die Bedrohung der kollektiven Auslöschung "nie aufgehoben, sondern nur verschoben." In seiner Rede von der "Endzeit" nimmt er 1956 Bestimmungen vorweg, die fünfzig Jahre später anhand des "Anthropozäns" aufgerufen werden. In der Vorlesung werde ich versuchen, das Ende der Zeit und das Ende der Welt als Conditio Humana aus den Perspektiven so verschiedener Autoren wie Ernesto de Martino, Günther Anders oder Isabelle Stengers zu erhellen und es mit indigenen Konzepten, aus Südamerika, aber auch aus den bäuerlichen Gesellschaften Süditaliens, zu vergleichen. Was, wenn die Apokalypse nicht der Ausnahmezustand, sondern der Normalfall ist?

Die Online-Ringvorlesung wird gefördert durch die Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaftliche Weiterbildung für Ältere, einer Sektion der Deutschen Gesellschaft für wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudium e.V.